Herbstkind in Schweden
- Maël
- 11. Nov. 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Apr. 2023
Graue Nebel wallen, kühler weht der Wind, bunte Blätter fallen, froh jauchzt das innere Kind: „Der Herbst ist da!“
Ein Schwedenherbst. Bunt sind die Wälder ja, aber das Bunte ist gar nicht mal so sehr in den Bäumen zu finden. Denn der Wald hier besteht hauptsächlich aus Fichten und Kiefern.
Ja, ein paar Birken, Erlen und Espen, auch mal ein Ahorn oder eine kleine Esche sprenkeln das Walddach mit leuchtend gelben Tönen. Doch das wahre Herbstbunt ist am Boden zu finden: Denn dort färben sich die unzähligen Heidelbeerbüsche purpurrot, die Farne gelb und orange, die Gräser ocker und braun. Hier und dort ziert ein, mit allen Herbstfarben beflecktes Ahornblatt, ein immergrünes Mooskissen.
Überall spriessen die Pilze in allen möglichen Farben, Grössen und Gestalten aus dem Boden, oder aus rottenden Baumstämmen heraus.
Es ist hier eine wahre Freude, ja ein Augenschmauss durch einen sonnigen Tag in dieser bunten Landschaft zu laufen.
Die grauen, nebligen Tage haben ihre eigenen Qualitäten. So wie der dichte Nebel die Landschaft ummantelt, bekleiden wir uns mit unseren dicken Ponchos. Wir ziehen die Frische der feuchten Kühle durch unsere Nase ein und geben uns hin, dem trüben Tag, welcher nicht minder seine Schönheit hat.
Es fehlt am Blick in die Weite, lässt uns dafür jedoch das, was Näher ist, um so besser betrachten; Wenn man, dick eingemummelt, draussen sitzt und eine Weile in die dichte Nebeldecke starrt, dann wird man irgendwann dem gewahr, was wirklich ganz nah ist; Gedanken, Gefühle, Impulse. Bunte Sprenkel überall. Ein ständiges Gebrabbel im eigenen Kopf. Doch der Nebel schluckt auch diesen Lärm irgendwann.
Es sind die ruhigen Tage, welche uns unsere eigene Unruhe erst bewusst werden lassen.
Einatmen, Stille, Ausatmen, Stille.
Nach und nach legt sich das Gemüt zur Ruhe nieder und es klärt sich der Blick.
Manchmal jedoch, da bleibt der Blick trübe. Da ist eine Meditation gleich einem Ausharren in einer zu engen Felsspalte. Es drückt eine Schwere die Brust zusammen. Eng umschliesst sie unser Herz, und zieht daran, will uns nicht still sein lassen, will uns aber auch nicht in Freude tanzen lassen. Nur schwer sein.
Ein Blick aufs Handy, etwas organisieren, mit Freunden schreiben, Instagrambilder anschauen oder posten…. oder lieber Wäsche waschen, oder Geschirr spülen, Aufräumen, Putzen… Was davon ist sinnvoll, gar sinnerfüllend, was davon nützlich und was ist eine blosse Ablenkung, oder vielmehr ein Nachgeben, unserer inneren Unruhe?
Was ist das bloss für ein Gefühl, welches uns keinen Frieden gönnt? Ein Unhold einer Unruhe, versteckt sich in der Dichte unseres eigenen Nebels. Doch ist es wirklich ein Monster, welches dort in uns haust? Oder will es uns eigentlich helfen? Ist es ein Freund, der an uns zieht, uns rüttelt, unser Herz berührt, weil er uns etwas vor Augen halten möchte? Kann es wirklich ein Monster sein, wenn es doch so zaghaft und vorsichtig an uns zupft, dass wir es nur dann bemerken, wenn wir Innehalten und in die Stille in uns hineinlauschen? Ein leises Echo eines kleinen Kindes, welches sich nicht traut zu sprechen, zu fühlen, zu sein? Was braucht unser inneres Kind?
Viel zu schnell ziehen wir den Vorhang wieder zu, schliessen das Fenster in unser unruhiges Selbst und machen. Was denn? Na irgendwas. Es gibt immer was zu tun. Wäsche zusammenlegen, Holz machen, Kochen, Auto reparieren, etwas bauen, Rechnungen begleichen… Ja, das fühlt sich doch schon viel besser an. Produktiv sein, bloss nicht stehen bleiben. Bloss nicht das Kind an uns zupfen lassen.
Aber Moment mal, da zupft es doch schon wieder an mir. Es weint sogar. Ich blicke hinab; mein Sohn mit fuchsrotem Gesicht, von Tränen überströmt. Ich beuge mich zu ihm herunter. Er streckt seine Ärmchen nach mir aus und ich nehme ihn auf den Arm. Was brauchst du, mein Kleiner? Schon beruhigt er sich. Einfach auf den Arm genommen werden? Komm, wir laden zusammen die Holzscheite in die Schubkarre. Schon bald hat er sich wieder gefasst. Und tatsächlich hilft er mir emsig. Ein Holz nach dem anderen hebt er unter grosser Anstrengung auf, wankt damit zur Schubkarre und wirft es mit einem jauchzen hinein. „Bong“, scheppert Holz auf Metall. „Boing!“, lacht Elouan. Dann dreht er sich um und holt das nächste Holz. Ein besonders grosses Scheit. Mit Mühe halten es seine kleinen Ärmchen hoch. Als er es über den Rand der Schubkarre wuchten will, fällt es fast herunter, doch hält er es blitzschnell mit seiner zweiten Hand fest und schiebt es geschickt zu den anderen Hölzern. Dann blickt er mich stolz an. Für einen Eineinhalbjährigen durchaus berechtigt. So blicke auch ich ihn stolz an, hebe ihn hoch und lache mit ihm, diesem kleinen Zauberwesen, welches frisch und leicht die Welt erkundet.
Ob er auch irgendwann, im dichten Nebel seines Seins, eine Schwere entdeckt? Sein verlorenes Kind? Ich wünsche mir, dass er sein Kindsein nie verliert, sondern vielmehr integriert in das, was sein Erwachsenensein von ihm fordern wird.
Doch was ist mit meinem inneren Kind? Wieso zupft es an mir, drückt sich gegen meine Brust? Hat es irgendwann mal nicht genug Liebe erfahren, als es ganz klein war und weinend am Zipfel eines Erwachsenen gezogen hat? Oder fühlt es sich durch spätere Erfahrungen, in denen es nicht spielen, sondern funktionieren musste, nicht gesehen? Haben Schule, Lehre, Gesellschaft und Co es sich als nicht wichtig fühlen lassen? Ist diese Schwere ein Zeichen dafür, dass mein inneres Kind mal wieder auf den Arm genommen und gestreichelt werden möchte, oder mit mir durch den Wald rennen und spielen möchte? Sagt mir diese Schwere, dass ich eigentlich mal wieder Leichtigkeit in mir brauche und mich dafür mit mir selbst beschäftigen sollte?
Aber was sind das für Momente, in welchen wir uns leicht fühlen, in denen sich alles gut anfühlt? Es sind diese Momente, in welchen wir uns im Fluss fühlen. Ja, wir fühlen uns leicht, wenn wir dem nachgehen, was uns beflügelt, uns in die Lüfte schwingen, um dem nachzugehen, was unserem Wesen entspricht.
Doch in einer Welt, in welcher wir dazu konditioniert sind zu funktionieren, ist das gar nicht so einfach. Selbst in diesem, bewusst gewählten, so freien Leben, wie wir das leben.
Ein äusseres Kind zu haben vereinfacht die Sache nicht unbedingt. Es kann ein guter Spiegel sein, ja, aber es fordert auch viel Aufmerksamkeit, Fürsorge und bringt den Haushalt, welchen man gerade in Ordnung gebracht hat, ganz schnell wieder durcheinander. Doch um mit reinem Herzen ganz da sein zu können für dieses äussere Kind, scheint es mir wichtig zu sein, immer wieder auch Raum und Zeit seinem inneren Kind zu schenken. Pausen.
Manchmal sind die Bedürfnisse dieses inneren Kindes vielleicht ganz klar: Auf einen Baum klettern, etwas malen, mit anderen tanzen und spielen. Manchmal jedoch ist das Kind so verschrocken, von all dem Tun des Alltags, dass es sich nicht traut sein Bedürfnis klar mitzuteilen. Da hilft nur die Schwere annehmen, sich Zeit für sich nehmen, sich in den Arm nehmen und auf den Impuls warten. Denn ein Kind handelt nicht aus dem Kopf heraus, sondern geht seinen Impulsen nach. Und das haben die meisten von uns verlernt.
Müssen, sollen, nicht dürfen… Das sind Worte einer Gesellschaft, in welcher Kinder nicht den eigenen Interessen, sondern den Interessen des Systems nachgehen sollen. Da ist kein Freiraum für das lebendige, kreative Wesen in uns.
Also schenke ich mir Freiraum. Einmal alle paar Tage auf der Veranda sitzen, im Schaukelstuhl wippen, einen warmen Tee trinken und einfach mal schauen. Kommt ein Impuls aus dem Herzen heraus? Nein? Dann warte ich und geniesse das Nicht-Müssen. Die kostbare freie Zeit, die ich mir in unserem allbeschäftigten Alltag gönne. Im Schaukelstuhl wippend, auf der Veranda, in den Wald hinaus blickend. So könnte man sich wohl einen ruhigen Lebensausklang vorstellen. Aber wieso immer die Ruhe am Lebensende sehen? Wieso darf es davon nicht durchaus einen gönnerhaften Brocken zwischendurch geben?
Wie gut das tut, einfach mal da zu sitzen und anderen beim fleissig sein zuzuschauen; die Amseln, Meisen und Dompfaffe picken emsig Beeren von den Sträuchern. Die Eichhörnchen keckern fröhlich im Ahorn und naschen von dessen Samen. Sie sammeln eifrig ihren Wintervorrat zusammen.
Es ist Herbst. Und der Winter naht. Das spüren nicht nur die Tiere, sondern auch wir. Und so bereiten auch wir uns auf die kalte, dunkle Zeit vor. Vor allem Holz machen steht an. Jeden Tag. Tote Bäume im Wald suchen, fällen, klein sägen, abtransportieren, dann entweder schon spalten, oder lagern.
Ja, schön ist der Schwedenherbst und ein Schwedenwinter soll es für uns werden. Keiner im hohen, schneereichen Norden. Unser Winterquartier befindet sich im Dalsland. Das ist auf der ungefähren Höhe von Oslo, gerade so über die schwedische Grenze rüber. Für Südschweden ist diese Gegend jedoch noch sehr wild. Elche, Luchse, vielleicht sogar Bären leben hier mit uns im Wald, unweit des 90 km langen Store Le Sees.
Hier haben wir von einem Deutschen aus Hamburg sein typisch rotes Schwedenhäuschen, mit 6 Hektar Land, zur Verfügung gestellt bekommen. Er ist froh wenn sein Häusschen über den Winter nicht von Mäusen, sondern von Menschen bewohnt wird.
Und so richten wir uns ein, in unsere Winterhöhle, und freuen uns, es den Eichhörnchen gleich zu machen; Nach einem bewegungsreichen Jahr, mit viel Auf und Abs, ist es bald Zeit langsamer zu werden und eine Winterruhe zu halten.
Einnisten im warmen Kuscheligen. Ab und zu raus in den Wald, einen der zahlreichen Seen besuchen, vielleicht ja mal Eisfischen in einer weissen, eiskalten Winterzauberlandschaft? Wir werden sehen und ihr es sicherlich erfahren.
Jetzt geniessen wir jedoch erst einmal noch eine Weile den bunten Herbst mit all seinen Schätzen. Sowohl an den Nebel-, als auch an den Sonnentagen.
Wir danken Mutter Natur für die Fülle, welche sie uns zu dieser Jahreszeit schenkt: Vor allem frische Pilze landen als proteinreiches Geschenk fast täglich auf unseren Tellern.Und Beeren schenken uns ihren Reichtum an Vitaminen.
Wir danken ihr für ihre zahlreichen Melodien, welche die Stille durchströmen, und den Frieden darin bewahren.
Und wir danken Mutter Natur für die unsagbare Schönheit, welche uns immerzu umgibt, welche wir jedoch nur sehen können, wenn wir einen Moment innehalten und uns für den gegenwärtigen Moment öffnen.
Zum Abschluss noch einen Dank an all diejenigen, welche den gesamten Bericht gelesen haben. Ein Dank in Form eines Gedichtes, welches einem Impuls entsprang, als ich draussen auf der Veranda im Schaukelstuhl mein inneres Kind wiegte und der raschelnden Espe beim Blätterverlieren beobachtete ;)
Golden Flocken tanzen nieder,
Wenn herbstlich Sonnenlicht durchflutet
Deiner Krone starken Zweige,
Und der Wind frohmunter pustet.
Ein raschelnd Regen schenkest du
Der Welt; malst sie als farbenfrohen Traum.
Fühl’ diesen Dank in meinem Sein
An deinen Stamm, oh Espenbaum! Wenn du gerne über neue Beiträge informiert sein möchtest, trete unserem Telegram-Kanal :) https://t.me/+ZzIlydfDdLAxYTAy

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