Living Wild - Norwegen #2
- Maël
- 4. Nov. 2022
- 16 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 8. Jan. 2023
„Es geht nicht um das Überleben in der Natur.
Es geht darum mit der Natur zu leben.
Es geht nicht darum sich durch die Wildnis zu kämpfen und schlussendlich
froh darüber zu sein wieder heil in der Zivilisation anzukommen.
Es geht vielmehr darum ein Teil der Wildnis zu werden,
sich in ihr komfortabel und heimisch zu fühlen.“

Diese, oder ähnliche Worte, waren es, welche uns zu einem Sommerkurs einer Wildnisschule in Norwegen lockten. Die Worte wirkten auf uns wie ein klares Echo. Das Echo unseres inneren Rufes in den hohen Norden zu ziehen.
Die Bilder der Homepage räsonierten umso mehr. Es waren Menschen abgebildet, deren Ausrüstung allesamt aus Naturmaterialien bestanden. Von den Klamotten, über die Rückentrage bis zu Werkzeugen wie Messer und Äxte wurde alles aus Holz, Stein und Leder hergestellt. Die Menschen auf den Fotos zogen durch atemberaubende Landschaften und verschwommen gar in ihr. Sie sammelten Beeren und jagden Elche.In uns erwachte der Wunsch, in diesem zweieinhalbmonatigen Kurs , der sogenannten „Summer - Immersion“ unserem Traum, im Einklang mit der Natur zu leben, ein gutes Stück näher zu kommen. Seit einiger Zeit beschäftigt uns die Frage, wie wollen wir denn wirklich leben? Auf welche Weise möchten wir unser Sein auf dieser Welt zelebrieren? Ansich haben wir eine ganz klare Antwort darauf: In Symbiose mit der Natur. Wir möchten kein Teil mehr der herrschenden Zerstörungsmaschine sein, welche der Mensch gerade am laufen lässt, sondern vielmehr ein Teil des natürlichen Systems mit all seinen Kreisläufen sein.
Doch weniger klar für uns ist es, wie genau wir diese Vision leben möchten. In unseren romantischsten Fantasien sehen wir ein Jurtendorf an einem Fluss, umgeben von wildem Wald. Die Gemeinschaft in diesem Dorf lebt simpel, im Kontakt mit der Erde und den Jahreszeiten. Die Menschen dort sind glücklich, denn sie sind erfüllt und verbunden mit sich, einander und der Welt.
Aber inwiefern ist dies bloss ein romantisches Bild, vielleicht geprägt durch Urinstinkte und träumerisch aufgrund fehlender Erfahrung? Inwieweit möchten wir moderne Technologien nutzen, oder in welchen Bereichen können wir wieder vollkommen ohne auskommen? Möchten wir das überhaupt? Können wir das überhaupt? Sind wir nicht viel zu sehr geprägt von der Zivilisation und ihrer Vielfalt?
Wir fühlen uns nirgendwo so zu Hause wie in einer heilen Natur. Je wilder, desto besser. Doch es ist ein merkwürdiger Zwiespalt. Es ist unser zu Hause, aber wir wissen nicht, wie wir dort leben können. Es ist als seien wir wilde Tiere, welche jedoch ihr Leben lang im Zoo aufwuchsen und ihr Essen jeden Tag vor die Schnauze geworfen bekommen haben. Tiere, die zwar noch Instinkte in sich tragen, aber denen es an Fähigkeit und Erfahrung mangelt, wirklich wieder draussen leben zu können. Dazu kommt natürlich noch der Umstand, dass wir unsere Komfortzone einfach unglaublich komfortabel finden.
Über den letzten Winter haben uns einige interessante Wissensbücher, aber auch Romane, vor Augen geführt, wie kurz der Mensch eigentlich erst so lebt wie er heute lebt. Ich rede dabei nicht von der Zeit der Digitalisierung. Ja nicht einmal von der Zeit, seitdem die Dampfmaschine erfunden wurde und auch nicht von der Zeit seit Christi Geburt. Sondern ich rede davon, dass der Mensch in 95% seiner Existenz Jäger und Sammler war. Die vergangenen 12.000 Jahre, seitdem der Mensch Zivilisationen errichtete machen nur 5% unserer Existenz auf dieser Erde aus. So sagen jedenfalls diese Bücher.
Es scheint uns jedenfalls einzuleuchten zu hören, dass der Mensch also von Natur aus eigentlich vielmehr wie ein Tier zwischen vielen Tieren Teil des gesamten Ökosystems ist. Die Welt, die Systeme, welche der Mensch durch sein Fortschrittsbestreben der letzten Jahrtausende erschuf, ist nicht nur für die Ökosysteme schädlich, sondern auch für ihn selbst. Wir leben völlig abgespalten von unserer wahren Natur. Unserer Zivilisation mangelt es nicht nur an Tier- und Pflanzengerechtigkeit, sondern auch an Menschengerechtigkeit. Uns fehlt das, was uns wirklich lebendig macht. Das ist unter anderem der blosse Hautkontakt unserer nackten Füsse mit der Erde. Ein weiteres Grundbedürfnis unseres natürlichen Seins ist jedoch auch die Zugehörigkeit zu einem Stamm, einem Tribe. Denn im Grunde sind wir Rudeltiere (Angehörige eines Fussballclubs haben dieses Bedürfnis vielleicht eher gestillt).

Da die Beschreibung des Kurses auch den Wunsch mitteilte, dass ein Stammesgefühl entwickelt wird und gegebenenfalls man über den Winter in diesem Tribe zusammen weiterleben könnte, gab es für uns kein Halten mehr.
Zu viele unserer Wünsche und Fragen schienen dort erfüllt zu werden. So fuhren wir schnurstracks über Dänemark, nahmen die Fähre von Hirtshals nach Norwegen, fuhren weitere fünf Stunden in den Norden und erreichten schliesslich das Städtchen Rena. Unser erster Eindruck der norwegischen Landschaft: wundervoll! Weite Wälder, wilde Bäche und Flüsse, viel Stille und klare Luft. Doch bei näherer Betrachtung war offensichtlich, dass die Wälder, die wir bis dahin zu Gesicht bekamen, allesamt aus bewirtschafteten Nadelholz-Forst bestehen. Fichten und Kiefern, gerade gewachsen, allesamt ungefähr gleich dick.
Zum Glück waren wir auf dem Weg zu einem Wildniskurs, von welchem wir uns versprachen richtig tief in wilde Landschaften einzutauchen. Als wir von Rena aus zum Kursort fuhren veränderte sich die Landschaft kaum. Immerhin hörte plötzlich die Asphaltstrasse auf und wir fuhren weiter auf einer roten Schotterpiste. „Gleich wird es richtig wild“, dachten wir uns. „Okay, jetzt noch nicht, aber gleich!“ , „Na gut , dann hinter der nächsten Kurve!“Doch als wir auf dem Parkplatz des Kursortes ankamen, befand sich dieser direkt neben einem „Clear cut“, einer freigerodeten Fläche. Tatsächlich erfuhren wir bald, dass wohl nur 3% der norwegischen Wälder noch als ursprünglich bezeichnet werden können. Ja, auch Schweden und Finnland bestünden hauptsächlich aus bewirtschafteten Waldflächen. Tatsächlich sollten solch freigerodete Flächen auch für uns bald zum allgemeinen Waldbild gehören.Immerhin war das Basislager mitten im Wald, doch wild war die Landschaft nicht wirklich. Dennoch, das muss hier erwähnt werden, hatte der Wald durchaus seinen Charme. Wie wahrscheinlich überall in Norwegen. Denn, im Vergleich zu dem meisten Fichtenforst in Deutschland, sind hier noch wenige grosse, bodenverdichteten Maschinen durchgekommen. Ja, es war eine jüngst bewirtschaftete Monokultur, aber dafür eine schöne, denn der Boden war bedeckt von verschiedensten Moosen, Flechten und Heidelbeerbüschen.
Bald schon sassen wir am Lagerfeuer, in einer Runde mit zwölf Menschen, darunter Elouan und ein 6 jähriges Kind mit seinem Vater. Zwei Wochen später sollten noch die Mutter des Kindes mit dem 11 jährigen Bruder dazu stossen. Es war angenehm, eine zweite Familie im Kurs zu wissen.So sassen wir also gemeinsam um das Feuer, im Kessel köchelte das Abendessen, und wir liessen den Redestab herumgehen. Wir stellten uns einander vor und waren gespannt auf die gemeinsame, vor uns liegende Zeit.Dies war also die Gruppe mit welcher wir die nächsten zwei Monate verbringen sollten. Dies wird also unser Tribe sein. Wir haben uns zu Beginn sehr wohl und willkommen gefühlt. Und wir waren gespannt auf eine spannende, lehrreiche und naturverbundene Zeit. Dass alles etwas anders kam, als wir uns das vorgestellt haben, könnt ihr euch wahrscheinlich bereits vorstellen.
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Kurzum gesagt; es war vor allem eine extrem stressige Zeit, und das trotz fehlender Abenteuer. Es war eine Zeit, die sich für uns, obwohl durchgehend draussen lebend und schlafend, eine Zeit war, welche sich für uns ungewohnt unverbunden mit der Natur angefühlt hat. Denn der Kurs war völlig anders aufgebaut als die Beschreibung es uns ausmalen liess: Es gab Frontalunterricht vom Feinsten: Von 9 Uhr morgens bis 7 Uhr abends gab es Programm, zwischendurch knappe eineinhalb Stunden Pause, in welcher wir gerade so das Mittagsessen kochen und hinunterschlingen konnten. Im Gemeinschaftslager stand eine grosse, schwarz-weisse Uhr, damit die Zeiten auch ja für alle präsent war.
Das Programm an sich bestand eigentlich aus sehr spannenden Themen und wir haben mit Sicherheit viel gelernt; Fäden aus Naturmaterialen spinnen, daraus Angelschnüre herstellen und Netze zum Fischfang knüpfen, Werkzeug aus Knochen schnitzen und Klamotten aus Leder herstellen. Nur hätten wir dafür leider unser eigenes Leder mitbringen müssen, was keiner der Teilnehmer wusste. Das war allerdings nicht der einzige Grund, wieso wir nicht wirklich produktiv an diesem straffen Programm teilnehmen konnten. Der Hauptgrund war der naheliegende Fakt, dass wir ein einjähriges Kind dabei hatten, welches nicht mehr den lieben langen Tag neben uns liegen und schlummern wollte, sondern mehr und mehr die Freude am Weltentdecken wollte. Und dann gab es natürlich ständig Stoffwindeln im Bach zu waschen. Wir hatten uns eigentlich zuvor extra erkundigt, ob der Kurs familienfreundlich aufgebaut sei, aber das wurde offensichtlich falsch eingeschätzt.
Doch nicht nur wir, auch die andere Familie, ja selbst jeder einzelne, individuelle Teilnehmer, stand immens unter Strom. Zeit für einen entspannten Spaziergang durch den Wald, oder einen Stillemoment am plätschernden Bach gab es kaum. Ausser man entschied sich dazu den Unterricht ausfallen zu lassen. Was wir irgendwann notgedrungen, doch gesunderweise, jeden Tag machten. Ich war überrascht zu bemerken, dass man zwar mit seinem Steinmesser in der Hand und mit seinem selbstgegerbten Leder gekleidet am Feuer sitzen und kochen kann und man dabei dennoch überhaupt nicht mit der Natur verbunden sein muss. Denn um sich wahrlich mit der Natur zu verbinden, müssen wir Zivilisationsmenschen wohl zuallererst mal entschleunigen, um den eigenen Rythmus, sowie den der Natur wieder zu erleben, um dann zu spüren, dass es keine Grenze zwischen der Natur dort draussen und derjenigen in uns selbst gibt. Doch diese Art der Naturverbindung sah dieser Wildniskurs nicht vor. Der Unterricht bestand tatsächlich ausschliesslich aus sogenannten „Hard skills“. Unter diesem Begriff werden in der Wildnisszene praktische, handfeste Fertigkeiten bezeichnet. Die für ein echtes Leben in der Wildnis natürlich seine Überlebenswichtigkeit haben. Den „Hard Skills“ gegenüberstehend gibt es die „Soft skills“, welche alle Fertigkeiten und Techniken bezeichnen, mit denen man sich auf der mentalen und spirituellen Ebene mit der Natur verbindet. An Letzteren fehlte es in diesem Kurs allerdings vollkommen. Und dieses Ungleichgewicht war immens zu spüren.
Irgendwie war alles in diesem Kurs etwas verkorkst; ein riesiger Stress, eine Monokulturlandschaft, Essen haben wir regelmässig aus dem Supermarkt geholt und Zeitdruck, sowie Plastik waren doch allzeit präsent.
Ein grosser Grund für den Unterschied zwischen den Bildern der Homepage und der Realität wie wir sie erlebten, ist der Fakt, dass die Leiterin der Wildnisschule bisher hauptsächlich in Montana, in der USA unterrichtet hat. Ungefähr 30 Jahre hat sie dort gelebt und gelehrt, doch sie da sie nie Staatsbürgerin war, hat sie nun die Aufenthaltsgenehmigung entzogen bekommen. Denn die Green Card setzt eine Corona-Impfung voraus. Und das war wiederum ein No-go für die wilde Frau. Das ganze Chaos, Schwierigkeiten und Unstimmigkeiten des Kurses waren dementsprechend irgendwie auch nachzuvollziehen. Alles hier war neu für die Lehrerin. Statt 30 verschiedene Bäume gab es hier 6. Statt purer Wildnis, gab es hier Forst und Clear Cuts. Dort konnte sie problemlos jagen, in Norwegen gibt es viel strengere Gesetze. In ihrem bisherigen zu Hause kannte sie immens viele essbare Pflanzen und ihre Wurzeln. Bisher hatte sie immer Assistenten. Doch hier war alles neu für sie.
Diese Geschichte liess uns etwas mehr verstehen, wieso alles so anders war, als wir uns das vorgestellt haben. Dennoch war die allgemeine Ausrichtung des Kurses nicht darauf ausgelegt als Gruppe zusammenzuwachsen und gemeinsam eine einmalig naturverbundene Erfahrung zu erleben. Die Teilnehmer arbeiteten teilweise noch bis spät in die Nächte hinein, um ihre Projekte fertig zu bekommen, und waren dementsprechend tagsüber völlig übermüdet. So haben wir uns ein Steinzeitleben wahrlich nicht vorgestellt. Es war irgendwie traurig zu merken, dass auch hier der Wahnsinn der Zivilisation fortgesetzt wurde.
Wie ein Tribe fühlten wir uns übrigens gar nicht. Viel zu sehr war jeder mit seinen eigenen Projekten beschäftigt. Wir mit Elouan, die zweite Familie mit ihren sich zoffenden Jungs und die anderen mit ihrer Steinzeitausrüstung. Ja, wir hatten uns diesen Kurs einfach ganz anders ausgemalt; da waren Bilder von verwunschenen, wilden Landschaften, von Menschen, welche Arm im Arm ums Feuer lagen und sich miteinander und mit der Welt verbunden fühlen. Es fühlte sich jedoch kaum anders an, als in der „normalen“ Gesellschaft. Jeder macht sein eigenes Ding, niemand hat Zeit wirklich füreinander da zu sein und die Familien bekommen das besonders zu spüren. Immer wieder verlangte die Gruppe nach einem Kreis, in welchem wir uns authentisch begegnen und wirklich kennen lernen können. Aber umgesetzt wurde davon nicht viel.
In einem der wenigen Kreise, in welchem wir dann doch zusammenkamen, brach Lou in Tränen aus und ich war voller Frust; wir teilten unseren Schmerz darüber, uns in unserer Gesellschaft als junge Familie so alleine zu fühlen. Auch, dass es nicht natürlich sei, ein Kind zu zweit grosszuziehen; dass es eben einen Stamm brauche, ein festes Kollektiv, welche das Leben gemeinsam meistert. Wir erkannten, dass man solch einen Stamm allerdings nicht von heute auf morgen kreieren kann. Man muss wahrscheinlich einige Jahre zusammen verbringen, natürlicherweise zusammenwachsen, ehe man sich gemeinsam um die Kinder kümmert. (mittlerweile haben wir auch anderes erlebt, aber so fühlten wir es damals).
Doch wie soll das in unserer heutigen Individualität funktionieren? Wie, wenn alle so sehr von ihrem Leben gestresst sind, dass nicht nur Eltern, sondern auch Kinderlose nach Feierabend und Pausen lechzen?Irgendwann stellten wir uns die Frage, wozu wir für so viel Stress, so viel Geld zahlten und wir dazu ja nicht einmal wirklich am Unterricht teilnehmen konnten.
Nach drei Wochen beschlossen wir schliesslich den Kurs abzubrechen. Es fühlte sich einfach nur sinnlos und zermürbend an.
Ein Gespräch mit der Kursleiterin änderte jedoch wieder alles. Denn die nächsten zwei Wochen sollten wir an einem wunderschönen, riesigen und wilden See verbringen. Und es gab ein Gruppenprojekt: Ein Kanu bauen, nur aus Naturmaterialien. Dazu noch dieses Angebot: wir mussten nur für eine Person bezahlen, mit Rücksicht darauf, dass wir als Eltern beide keine 100% teilnehmen konnten. Solch ein grosszügiges Angebot konnten wir dann doch nicht ausschlagen.
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Und tatsächlich; der See war wunderschön und der von Mooren durchzogene Wald wirkte um einiges wilder.
Es gab sogar richtig wilde Tiere, welche uns immer wieder attackierten. Ihre Bisse waren verdammt schmerzhaft und sie waren zahlreich. Ihre mannshohen Bauten verrieten uns, wessen Revier das hier war: Waldameisen! So aggressiv sie ihr Territorium auch verteidigten, sie waren harmlos im Vergleich zu den sogenannten „Knotts“. Eine Sandfliegenart, welche angeblich ätzende Säure auf unsere Haut spucken, um diese dann aufzusaugen. Ich musste an ein Sprichwort der Maoris aus Neuseeland denken: „Gott hat Neuseeland als Paradies erschaffen, und die Sandfliegen, damit die Menschen sich nicht zulange darin aufhielten.“ Ohja! Der See war ein idyllisches Paradies.
Wir hatten unser Lager in einer kleinen, von Seerosen beschmückten Bucht, aufgeschlafen. Man hätte gut für immer dort bleiben wollen. Doch die Knottsschwärme verwandelten das Paradies in eine Hölle. Wenn sie da waren konnte man sich keinen Augenblick hinsetzen, ja nicht einmal stehen bleiben. Es gab anscheinend nur drei Lösungen: Wild um sich schlagend durch den Wald hetzen, oder hinaus auf den See, oder sich in die Rauchfahne des Feuers setzen. Zumindestens, wenn man nicht den ganzen Tag in seinem Schlafplatz unterm Moskitonetz sitzen wollte. Wobei ein normales Moskitonetz vor diesen Miniaturinsekten nicht schützte. Stecknadelgross schlüpfen sie einfach durch die Maschen. Glücklicherweise hatten wir vorher recherchiert und ein spezielles Moskitonetz für skandinavische Länder gekauft. Dieses hatte ein viel engmaschigeres Netz. Doch da die Knotts, wenn sie einmal draussen waren, allgegenwärtig waren, reichte schon ein unachtsamer Moment, in welchem man das Netz einen halben Moment zu lange offen hatte, und schon hatte man einen ganzen Schwarm im Innern des Netzes. Das kam nicht nur einmal vor; Schlaflose Nächte, voller brennender Bisse (oder Spucke?), waren das Resultat. Mit der Zeit wuchs ein Gleichmut, wie ihn uns kein Meditationsretreat hätte näher bringen können.
Unser grösster Lehrer und Meister hierbei: Unser kleiner Sohn Elouan. Sein ganzer Körper sah völlig zerschunden aus, doch er beschwerte sich keinen einzigen Augenblick. Zwar wischte er sich die Mistviecher immer wieder aus dem, von Ätze übersäten, Gesicht, doch blieb er dabei völlig entspannt, froh und munter. Im Vergleich dazu hörte man ständig die Flüche und Schreie der Erwachsenen. Nach und nach lernten wir alle jedoch von Elouan: Einen tiefen Atemzug nehmen und einfach weiter machen.
Glücklicherweise waren die Knotts vor allem in der Anfangszeit aktiv, zogen sich aber mit den mehr und mehr sonnigen Tagen auch mehr und mehr zurück, sodass wir dann doch irgendwann auch einfach mal entspannt und splitternackt am See liegen konnten. Da Lou und ich es zu unserer obersten Priorität gemacht haben, entspannt zu sein, gab es solche Momente jetzt tatsächlich hin und wieder.
Eine kleine Wanderung mit einer magischen Begegnung ist mir dabei besonders in Erinnerung geblieben; Statt, wie sonst am See entlangt, wählte ich dieses mal den Weg landeinwärts. Zunächst am Moor entlang, stieg ich irgendwann über die dicht bewaldete Kuppe. Auf der anderen Seite wurde der Wald immer lichter, einzelne, von Flechten bedeckten Felsen, bemalten die grüne Landschaft mit grauen Tupfern. Der Tag war richtig sommerlich warm, am Himmel hingen nur vereinzelte, verschlafene Wolken.
Und als ich schliesslich auf eine grosse Lichtung trat sah ich sie: eine Schönheit, wie ich sie selten sah; sanft eingebettet im moorigen Moos, wild und doch weich. So lag sie vor mir, wie gemalt im sommerlichen Licht, wartete sie auf mich, rief mich zu ihr. In ihren Bann gezogen zog ich mich aus, kaum den Blick von ihr abwendend. Vorsichtig trat ich näher. Unter meinen nackten Füssen das Moos, war schwammig weich und feucht. Einer Elchspur folgend mied ich die tückischen Tiefen, in welchen die Gefahr drohte einzusinken. Achtsamen Schrittes trat ich näher und näher und stand schliesslich vor ihr. Spiegelte mich in ihrem ruhigen, tiefschwarzen Wasser. Es war mir fast so, als sei sie geradezu jungfräulich, als sei mein Eintauchen ein seltenes, wenn nicht gar noch nie erfahrenes Ereignis. Ehrfürchtig liess ich mich hineingleiten. Langsam schwamm ich durch die stille Weite des Sees, genoss die Eiseskälte, welche mich umschloss und die wärmenden Gefühle, welche in mir erwachten. Und grinste über die ebenfalls auftauchende Furcht, ein Seeungeheuer könnte aus der Tiefe des schwarzen, mit dem Auge kaum zu durchdringendem, Wasser auftauchen.
Als ich mich wieder ans Ufer zog blieb ich noch einen Moment voller Dankbarkeit stehen. Ich betrachtete das Funkeln des Sonnenlichts auf der glatten Seefläche und die malerische Landschaft, welche mich umgab. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dann trat ich von dannen, zog wieder meine Kleider an und kehrte zurück ins Lager; Einen See und seine Lichtung in meinem Herzen tragend.
Doch nicht nur dieses Juwel, auch der grosse See, an welchem wir unser Lager hatten, bleibt mir in schönster Erinnerung zurück. Welch einen Frieden solch eine riesige Wasserfläche ausstrahlen kann, wenn man in einem klitzekleinen Kanu in der Mitte des Sees treibt. Sinnierend über die Wunder des Lebens, über die Weite des Himmels und die Tiefe des Wassers.
Besonders malerische Momente boten sich uns zu den Abendstunden, wenn die Sonne ganz tief am Horizont stand und die Wolken mit den schönsten Rosatönen bemalte. Dies war die Zeit des Fischens. Mit Angelruten bewaffnet sassen wir in Kanus in unserer kleinen Bucht und zogen einen Barsch nach dem anderen aus dem Wasser. Besonders gross waren die Fische nicht, aber dafür zahlreich. So hatten wir immerhin ein bisschen das Gefühl uns nicht nur aus dem Supermarkt zu ernähren.
Während wir abends ausgelassen auf dem See paddelten, oder in gemeinschaftlicher Runde um das Feuer sassen und einander Anekdoten und Witze erzählten, herrschte am Tag dann doch wieder ein straffes Programm. Denn es sollte ja ein Kanu gebaut werden. Der niederländische Bootsbauer, welcher extra für diese zwei Wochen angereist kam, war ganz erstaunt zu hören, dass eigentlich nur eine Woche für das Boot eingeplant war. Eigentlich, so meinte er, bräuchte es mindestens drei Wochen. Kurzum: Die Gruppe entschloss sich dazu sowohl freie Tage, als auch individuelle Projekte hinten anzustellen. Immerhin: glückliche Kinder, genügend Schlaf und Essen setzten wir als oberste Priorität.
So begannen wir voller Eifer tote Fichten zu fällen. Mit Handsägen und Beilen formten wir nach und nach Bretter, Latten und den Rumpf. Diese verbanden wir mit Holzzapfen und Hautschnur.
Nach knapp zwei Wochen hatten wir tatsächlich ein wunderschönes Bootsskelett angefertigt, welches nur aus hiesigen Fichten und Hautschnüren bestand. Ummantelt wurde dieses nun mit rohen Elchhäuten, welche mit einer speziellen Nähtechnik wasserundurchlässig aneinander gesetzt wurden. An den Kielenden wurden jeweils ein Barschkopf und eine Schwanzflosse geschnitzt. So bekam das Boot auch seinen Namen: „Perch“, Englisch für Barsch.
Und tatsächlich, die Jungfernfahrt meisterte die „Perch“ hervorragend.
In dieser Zeit vergassen wir fast vollkommen das Chaos der Welt dort draussen. Der Frieden und die Stille des Sees, sowie des Waldes waren unsere Welt. Manchmal, wenn der Wind ganz still war, war es sogar fast zu ruhig. Spät abends da gab es diese Momente, in welchen wir wach in unseren Schlafsäcken lagen und in die Stille hineinhörten. Kein Vogel, kein Wellenschlag, kein Insektengesurre. Endlose Weite des Nichts. Doch… war da nicht dich etwas zu hören? Drang da nicht, wenn wir ganz still da lagen und ganz genau hinhörten, ein leises Rauschen ganz wage in unser Ohr hinein? Eine Auotbahn? Das Rauschen und Klappern von rasenden Autos? Ja, tatsächlich, wir hörten es alle beiden. Aber war das wirklich real? Auf der Karte gab es erst sehr viele Kilometer weiter eine stärker befahrene Strasse. Eigentlich zu weit. Oder hat unser Gehör in dieser Stille an solch eine Sensibilität gewonnen, dass wir selbst die klitzekleinste Schallübertragung wahrnahmen?
Oder täuschte uns unser, an Dauergeräuschen und Lärm gewöhntes Gehör? Wir haben keine definitive Antwort gefunden. Aber wir entschieden uns, um die pure Idylle rein zu lassen, dafür unserem verwirrten Unterbewusstsein die Schuhe zu zu schieben.
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Leider mussten wir uns nach zwei Wochen wieder in das Getümmel der Zivilisation begeben.
Die Knotts waren nicht im Stande uns aus dem Paradies zu vertreiben. Unser mangelnde Fähigkeit uns wirklich aus der Natur zu ernähren jedoch schon.
Trotz der mittlerweile reifenden, unzähligen Heidelbeeren, sowie einigen Barschen, gab das Paradies uns nicht genug preis. In diesen Breitengraden wären wir auf das Jagen angewiesen gewesen. Dies wäre allerdings vollkommen illegal gewesen und unser Jagdkönnen wäre wahrscheinlich nicht überlebensausreichend gewesen.
Unser Proviant war also alle und so zog es uns wieder zurück in die Zivilisation. Der Supermarkt war ein Kulturschock. Und irgendwie fühlte es sich falsch an, in Plastik verpacktes Essen aus aller Welt in einen Einkaufswagen zu schmeissen. Dennoch waren einige Schlemmereien besonders begehrt: Erdnussbutter und Creme Fraiche wurden wahrscheinlich leergekauft.
Nach einer kurzen Zeit der Akklimatisierung wurde der Kurs im Basislager fortgesetzt. Filzen stand nun auf dem Programm. Etwas, das uns überraschenderweise viel Freude bereitete. Wir filzten Stiefel und Lou einen Rock.
Es war nun viel einfacher mit Elouan am Programm teilzunehmen. In den vergangenen Wochen hat er immense Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht. Er konnte eigenständig stehen, war viel wacher und kommunikativer und wurde wahrscheinlich auch dadurch begehrter Spielkamerad der grösseren Jungs.
So sind wir doch ein bisschen mehr, wenn auch zu einem klitzekleinen Teil, zu einem Tribe zusammengewachsen.
Nach der Filzwoche war der Kurs eigentlich noch nicht zu Ende. Doch für uns, und auch für die andere Familie, reichte es. Es war nicht der stressigste Moment, in welchem wir ausstiegen, aber ein Guter. Denn für die letzten zweieinhalb Wochen war eine Expedition knapp oberhalb des Nordpolarkreises geplant. Mit Kanus, unter anderem der „Perch“ sollte das Abenteuer zum Grossteil auf dem Wasser stattfinden.
Eigentlich würde ich liebend gerne an solch einer Expedition teilnehmen. Allerdings nicht mit einem Kleinkind. Aus der Erfahrung der vergangenen Wochen konnte ich ganz entspannt „nein“ zu der Expedition sagen. Zumal wir hunderte von Kilometern hätten fahren müssen. Da dankte uns auch unser schmales Budget, dass wir uns gegen die Reise in den noch höheren Norden entschieden.
Nach und nach fuhren die Anderen auf vier Autos aufgeteilt los, auf ihr Abenteuer im hohen Norden. Wir blieben zunächst erstmal einfach auf dem Parkplatz stehen. Neben dem Clearcut, welcher uns zu Beginn so hässlich erschien und an welchen wir uns mittlerweile gewöhnt hatten.
Wohin als Nächstes? Wir wussten es nicht. Erstmal Pause machen. Erstmal entspannen. Reflektieren.
Ein Frust war deutlich zu spüren. Ein Frust, dass der Kurs, für den wir so viel gegeben haben um an ihm teilhaben zu können, ganz und gar nicht das war, was wir uns gewünscht haben. Ein Frust, dass wir es schon wieder nicht geschafft haben, einfach mal zu entspannen. Aber irgendwie lag auch schon ein Duft von Frieden in diesem Frust. Es gab ebenfalls tolle Momente, einzigartige Momente, und trotz all dem Stress haben wir einiges gelernt und sind auf unserer Suche ein Stückchen weiter gekommen.
Wir haben keine klaren Antworten auf unsere Fragen. Aber einige davon sind vielleicht auch schwer zu beantworten. Wie möchten wir leben? Inwieweit möchten wir moderne Technologien nutzen, oder in welchen Bereichen können wir wieder vollkommen ohne auskommen? Möchten wir das überhaupt? So könnte ich diesen Bericht gar nicht mit euch teilen. Können wir das denn überhaupt? Sind wir nicht viel zu sehr geprägt von der Zivilisation und ihrer Vielfalt?
Denn auch wenn die moderne Lebensweise des Menschen nur 5 % seiner Gesamtexistenz ausmachen, ist sie mittlerweile bereits so sehr verändert, haben wir uns mittlerweile selbst so weit gezähmt, dass wir anscheinend nicht einfach mal so wieder zu Jägern und Sammlern werden.
Zumal die reichen Jagdgründe von einst nicht mehr existieren. Wildnis gibt es nur noch in den extremsten Zonen. Wir haben nicht nur uns, sondern auch die Welt um uns herum dermassen verändert, dass wir gar nicht mehr von heute auf morgen wieder zu einem ursprünglichen Selbst zurückkehren können. Aber wir können uns zumindestens unserer Wurzeln besinnen, unser wahres Selbst erkennen und Schritt für Schritt die Natur und uns selbst wieder verwildern. Denn alles ist gut, solange du wild bist ;)

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